Hinter Jean-Baptiste lagen einige aufregende Monate, die er so recht noch nicht hatte verarbeiten können. Irgendwie war alles viel zu schnell gegangen. Sein Austauschtrimester in Madrid war rücklblickend wie ein Flügelschlag vergangen und gleichzeitig fühlte es sich so an, als wären diese vier Monate die einzigen in seinem Leben gewesen, die wirklich Bedeutung hatten. Als er im Januar zurück auf das Internat in die Schweiz gekommen war, hatten die Vorbereitungen für das Bacc gestartet und der Titelerbe hatte sich - entsprechend seiner alten Gewohnheiten - mit vollem Eifer in's Lernen gestürzt. Immerhin hatte das Trimester in Madrid lediglich den Sinn gehabt, seine Spanischkenntnisse so weit zu verbessern, dass er am Ende in diesem Fach eine ebenso gute Note erhielt wie in allen anderen - abgesehen von Latein. Hier würde er wohl mit einer durchschnittlichen Bewertung rechnen müssen, doch damit hatte er sich abgefunden. Und ehe er sich versah, war es Mitte Juni gewesen und er hatte seine Abschlussprüfungen geschrieben - und mit Bravour bestanden.
Und jetzt war er hier. In Marseille. Und würde im September mit seinem Studium beginnen. Wie er es sich die ganze Zeit gewünscht hatte. Die ganze Zeit? Nein, das stimmte nicht ganz. Denn in diesen vier Monaten in Madrid hatten sich ganz andere Wünsche aufgetan. Wilde, unrealistische Hirngespinste bei denen die Nähe zu einem ganz besonderen Lockenkopf immer wieder eine Rolle gespielt hatte. Es war nicht so, als hätte er seit seiner Abreise aus Spanien keine Trauer empfunden - er hatte ganze Nächte verheult in seinem Bett verbracht - doch die anstehenden Prüfungen hatten zumindest dafür gesorgt, dass er am Tage funktionierte und sein Pensum hielt. Und jetzt? Jetzt hatte er seinen Abschluss in der Tasche, war von der Schweiz zurück nach Frankreich in die Studentenverbindung gezogen, die sein Vater ihm ausgesucht hatte, und hatte erstmals genug Zeit, alles zu verarbeiten. Er hatte Lino sitzen gelassen. Einfach so. Ohne ein Wort zu sagen, hatte er seine Sachen gepackt und war zurück in die Schweiz gegangen. Rückblickend kam es ihm wie ein schlechter Traum vor. Er war doch sonst nicht so ein Arschloch. Doch er hätte es einfach nicht verkraftet, Lino in die Augen zu sehen und ihn zu verlassen. Er war sich sogar sicher, dass er mit einem Blick in die dunklen Augen nicht gegangen wäre. Undenkbar. Dafür hatte er zu viele Verpflichtungen - er hatte ihn verlassen müssen. Schnell und schmerzlos. Nur war es nie schmerzlos gewesen und war es auch jetzt nicht. Seine Gedanken drehten sich die ganze Zeit um den anderen Jungen, während er durch das Einkaufszentrum lief. Eigentlich wollte er ein paar Erledigungen für sein Zimmer vornehmen, doch seine Gedanken waren kilometerweit weg. Zumindest bis zu dem Moment, als er dunkle Locken in einem Laden sah. Dunkle Locken und spanisches Fluchen. Sein Herz machte einen Satz, bis er realisierte, dass der junge Mann wenige Meter entfernt nicht seine große Liebe, sondern einfach nur Irgendjemand war. Irgendjemand, der offensichtlich Schwierigkeiten hatte sich zu verständigen. Ohne weiter darüber nachzudenken, näherte er sich der Titelerbe der Szenerie.
"Entschuldigung, kann ich helfen vielleicht?", erkundigte er sich auf spanisch bei dem Lockenkopf, der so schmerzliche Erinnerungen an feuchte Küsse am Strand geweckt hatte und schenkte ihm ein freundliches Lächeln.